Der CBM-Leiter für humanitäre Hilfe im Interview
Warum macht die CBM "Humanitäre Hilfe für alle", bei der CBM "IHA" genannt?
IHA ist die Abkürzung für "Inclusive Humanitarian Action". Der Arbeitsbereich ist an sich nichts Neues für die CBM, wir leisten schon seit mehr als 50 Jahren Nothilfe. Aber in den letzten Jahren haben wir das zunehmend systematischer gemacht. Der steigende Bedarf an humanitärer Hilfe weltweit hat auch die Zahl unserer Projekte im Bereich der inklusiven humanitären Hilfe immer weiter steigen lassen. Der humanitäre Hilfsbedarf, auch für Menschen mit Behinderungen ist groß.
Wie würden Sie – für Laien – die humanitäre Hilfe von Entwicklungszusammenarbeit im Allgemeinen unterscheiden?
Humanitäre Maßnahmen finden in destabilisierten Kontexten in Gebieten statt, in denen die Kapazitäten der primären Verantwortungsträger, z. B. der Regierungen, mit dem Ausmaß des Bedarfs überfordert sind. Das ist der Zeitpunkt, an dem die Regierungen die internationale Gemeinschaft um externe Unterstützung bitten. Die Umstände können so extrem sein, dass wir uns zunächst für lebensrettende Maßnahmen, Maßnahmen zur Linderung des akuten Leidens und zur Bewahrung der Menschenwürde einsetzen müssen.
Es sind diese destabilisierten Rahmenbedingungen, die die humanitäre Arbeit von der Entwicklungszusammenarbeit unterscheiden. Während diese sich auf bestehende Strukturen stützen kann, auf Normalität in den Beziehungen, ist im humanitären Kontext die Handlungsfähigkeit gestört oder nicht vorhanden. Humanitäre Hilfe ist zunächst also immer eine reaktive Maßnahme, auch wenn wir uns ab einem gewissen Zeitpunkt nach der akuten Phase natürlich auch mit dem Aufbau von Resilienz befassen.
Einige der Projekte der humanitären Hilfe, die wir durchführen, werden dann zu Projekten der Übergangshilfe. Wie in der Ukraine zum Beispiel, wo wir derzeit mit der Rehabilitation und der Ausstattung einer Krankenhausabteilung für Wirbelsäulenverletzungen beschäftigt sind. Hier nutzen wir das Fachwissen anderer CBM-Initiativen. Mit Hilfe unseres globalen Beraters für physische Rehabilitation sind wir in der Lage, auch in diesem aktiven Kriegskontext den Partner vor Ort zu beraten und eine Abteilung in der Klinik aufzubauen, die sich jetzt um die große Zahl von Menschen mit Rückenmarksverletzungen in diesem Konflikt kümmert.
Auch bei vielen Naturkatastrophen, z. B. bei Erdbeben, gibt es eine große Anzahl von Menschen, die schwer verletzt werden, Rückenmarksverletzungen erleiden, aber auch z. B. Gliedmaßen, Beine und Arme verlieren. Sie müssen über einen längeren Zeitraum hinweg körperlich rehabilitiert werden. Wir schaffen also über die humanitäre Hilfe hinaus Strukturen, die in der Lage sind, auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen einzugehen, aber auch, die Entstehung von Behinderungen im Kontext humanitärer Krisen zu verhindern.
Es gibt viele Hilfsorganisationen, die Katastrophenhilfe leisten. Was kann die CBM leisten, was andere nicht können? Was ist sozusagen ihr Spezialgebiet in diesem Zusammenhang?
Die CBM legt den Fokus auf die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen. Und unsere besondere Stärke liegt in den etablierten Kontakten, die wir vielerorts mit Organisationen von Menschen mit Behinderungen haben, so dass wir diese auch zu lokalen Ersthelfern in Krisensituationen ausbilden können. Die Zusammenarbeit hilft uns, die gesamte humanitäre Hilfe positiv zu beeinflussen. Dabei handeln nicht nur wir inklusiv, sondern wir schulen auch die humanitären Helfer anderer Organisation und weitere Akteure aktiv darin, ihre Maßnahmen von Beginn an inklusiv zu gestalten.
Die CBM bringt also auch anderen bei, wie sie auf eine inklusive Weise handeln können?
Das ist eine Komponente in unseren Projekten. Wir arbeiten fast überall so. Wir nennen das "Protection and Inclusion Mainstreaming" [Anm. d. Red.: durchgängige Berücksichtigung von Schutz und Inklsuion]: Wir schulen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unserer Partnerorganisationen und der humanitären Koordinierungsmechanismen, um den Bedarf und die Aktivitäten zu bewerten und sich darüber auszutauschen, wie den Bedürfnissen der Menschen am besten entsprochen werden kann. Wir haben eine Reihe guter Beispiele – „Best Practices – , dafür, wie Menschen mit Behinderungen in die Projektplanung und auch in die Umsetzung humanitärer Hilfe einbezogen werden können, z. B. mit "Age Gender and Disability"-Arbeitsgruppen (für Betroffene, die aufgrund ihres Alters, ihres Geschlechts oder ihrer Behinderung besonders betroffen sind), in Flüchtlingslagern, wie wir das z. B. in Bangladesch in den von den Überschwemmungen betroffenen Gemeinden in der Region Gaibandha umgesetzt haben. Während der Corona-Krise haben wir Faltblätter in Braille-Schrift für Menschen mit Sehbehinderungen entwickelt, um sie für die Präventionsbotschaften der Pandemie zu sensibilisieren.
Ebenfalls in Bangladesch waren Menschen mit Behinderungen aktiv an der Verteilung von Hilfsgütern an die Bevölkerung beteiligt. Das alles trägt dazu bei, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass Menschen mit Behinderungen nicht nur als Last empfunden werden, sondern auch Teil der Lösung sind, und dass sie – je nach ihren individuellen Fähigkeiten – einen Beitrag zur humanitären Hilfe leisten können.
Könnten Sie einen Zeitstrahl für die Maßnahmen skizzieren, die Sie im Falle einer Katastrophe ergreifen? Wann leistet die CBM sofortige Notfallhilfe oder greifen Sie ein, nachdem sich die unmittelbare Situation geklärt und stabilisiert hat? Und wie lange bleiben Sie dabei?
Da müssen wir bescheiden bleiben. Wir sind keine Organisation, die Such- und Rettungsteams per Hubschrauber schickt oder innerhalb von 24 Stunden an einem Katastrophenort sein kann. Dennoch: Wir kümmern uns so schnell wie möglich um lebensrettende Sofortmaßnahmen, wo immer wir das können, und das gelingt besonders gut in Regionen, in denen wir vorher schon präsent waren. Die CBM ist eine Organisation, die mit einer großen Anzahl von Partnern in den ärmsten Ländern der Welt Kapazitäten aufbauen konnte. In solchen Ländern ist es möglich, sehr schnell zu reagieren. Durch diese Zusammenarbeit konnten wir in Malawi direkt nach dem Wirbelsturm "Freddy" medizinisches Verbrauchsmaterial über Partnerkliniken verteilen, die etwa die zahlreichen Knochenbrüche der Menschen behandelten.
Der Großteil der humanitären Arbeit der CBM bezieht sich jedoch auf langwierige, komplexe Notsituationen, in denen es um konfliktbedingte Flucht und Vertreibung geht. Wir arbeiten dann an der Normalisierung der Beziehungen zwischen den Vertriebenen und den aufnehmenden Gemeinden und deren friedlicher Koexistenz. Wir arbeiten am sozialen Zusammenhalt, an der Deckung des Bedarfs an Grundbedürfnissen und Gesundheitsbedürfnissen, an psychosozialer Unterstützung und psychischer Gesundheit für traumatisierte Menschen. Natürlich arbeiten wir auch an physischer Rehabilitation, wie zum Beispiel in Kamerun, wo wir einen langjährigen und etablierten Partner mit Kompetenz im Bereich der physischen Rehabilitation und Prothetik haben. Dieser arbeitet jetzt in einer Region, in der inzwischen ein aktiver Konflikt herrscht und in dem die Gewalt auch zu Behinderungen geführt hat und jetzt noch mehr Menschen Bedarf an physischer Rehabilitation haben.
Und wie lange bleibt die CBM dabei? Gibt es eine "Ziellinie" für den humanitären Einsatz?
Es gibt Situationen, in denen wir eine relativ intakte Gesellschaft und eine hohe Kapazität der Verantwortlichen haben und diese nur vorübergehend durch ein äußeres Ereignis wie z.B. einen tropischen Wirbelsturm, wie jetzt kürzlich in Malawi, überfordert sind. Malawi ist ansonsten ein relativ intaktes und voll funktionsfähiges Land. Die kürzliche Katastrophe schafft einen Bedarf, auf den wir reagieren und den wir bewältigen können. Aber ich gehe fest davon aus, dass sich die Lage innerhalb einiger Monate normalisieren wird. Andererseits arbeiten wir auch in Situationen wie dem Kakuma-Flüchtlingslager in Kenia, wo Menschen aus dem Südsudan leben, die schon seit 20 oder 30 Jahren dort sind. Es handelt sich also um eine sehr langanhaltende Flüchtlingssituation, wo wir uns auch um Bildungsangebote, auch inklusive Bildungsangebote, kümmern müssen. Und wir sehen andere komplexe Notsituationen in der ganzen Welt, die sich über viele Jahre hinziehen und wo wir zwischen humanitärer Hilfe und Entwicklungshilfe hin- und herpendeln. Wir streben immer danach, eine Verbindung – einen Nexus – zwischen humanitärer Hilfe und Entwicklungsmaßnahmen zu schaffen, damit wir eine gestärkte Gemeinschaft wiederherstellen können, die in einen entwicklungspolitischen Kontext überführt werden kann. Für mich persönlich ist das auch ein sehr wichtiges Ziel unserer Arbeit.
Können Sie kurz den Unterschied zwischen dem, was Sie mit der IHA tun, und dem Team für inklusive Katastrophenvorsorge beschreiben?
Inklusive Katastrophenvorsorge ist ein Arbeitsbereich, der intakte Strukturen und Gemeinschaften voraussetzt und vor allem für Menschen in Regionen greift, die wiederholt von naturbedingten Katastrophen betroffen sind. Das gesamte Thema dieser "Katastrophenvorsorge" wurde in Asien perfektioniert, wo die Menschen von nahezu jährlich wiederkehrenden Monsunüberschwemmungen in mehr oder minder großem Ausmaß betroffen sind. Im Rahmen dieser Arbeit schult die CBM die bestehenden Gemeinden und baut etwa gemeindebasierte Komitees auf, die über Maßnahmen zur Verringerung des Katastrophenrisikos beraten. Diese befassen sich z.B. mit der Erstellung von Gefahren-Inventuren und -Kartierungen, damit sie genau wissen, wie hoch das Risiko wann und wo genau ist. Wie können wir Frühwarnungen ausgeben, wie können wir Such- und Rettungsmaßnahmen durchführen, die alle berücksichtigen? Oder wie können wir schnellstmöglich erste Hilfe von außen organisieren, wenn es vor Ort nicht genügend Kapazitäten gibt?
Inklusive Katastrophenvorsorge bedeutet auch, den Verlust von Errungenschaften zu verhindern, die auf der Grundlage von Entwicklungsmaßnahmen, manchmal über viele Jahre hinweg, geschaffen wurden. Und wir sehen tatsächlich einen großen Unterschied zwischen Gemeinschaften, die von der Katastrophenvorsorge profitiert haben, und solchen, die ohne diese Maßnahmen sehr, sehr anfällig sind. Die Katastrophenvorsorge ist ein effektives Mittel, um die Vulnerabilität der Menschen zu verringern.
Was sind die besonderen humanitären Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen in Krisenzeiten und wie gehen Sie darauf ein?
Besondere Gefahr besteht vor allem bei sich schnell entwickelnden Krisen und plötzlich auftretenden Katastrophen, z.B. wenn sich ein Wirbelsturm auf ein Gebiet zubewegt. Eine inklusive humanitäre Arbeit stellt dann etwa sicher, dass auch Menschen mit Behinderungen gewarnt werden können. Wir haben einige interessante Beispiele für ausgeklügelte Frühwarnsysteme für Menschen gesehen, die nicht hören oder sehen können. Und auch bei und nach der Evakuierung müssen wir die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen jeglicher Art berücksichtigen. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Fall, in dem Menschen Psychopharmaka benötigten, und die Versorgungskette unterbrochen war. Im Rahmen eines inklusiven humanitären Hilfsprojekts werden wir uns immer nicht nur um Lebensmittel und Wasser kümmern, sondern auch um die besonderen Bedürfnisse aller Menschen, die spezielle Hilfsmittel benötigen. Auch Hilfsmittel wie Rollstühle, Krücken, Mobilitätshilfen oder Prothesen sind ein wichtiger Bestandteil der inklusiven humanitären Hilfe.
Was finden Sie persönlich so wichtig daran, diese Aufgabe anzugehen?
Wir haben in der Vergangenheit gesehen, dass Menschen mit besonderen Schutzbedürfnissen in humanitären Kontexten noch stärker gefährdet sind. Das hat erhebliche Folgen für den Einzelnen, aber auch für die Gesellschaft insgesamt. Beispielsweise wenn man an Menschen mit geistigen Behinderungen denkt, die in Vertreibungssituationen oft Misshandlung erfahren. Wir wollen sicherstellen, dass ihre Rechte auch in humanitären Situationen beachtet und gewahrt werden. Ich glaube, dass das in der Vergangenheit nicht hoch genug auf der Agenda der humanitären Hilfe gestanden hat. Und ich bin sicher, es gibt einen Weg, das zu verbessern. Wir sind gut aufgestellt, denn wir haben in vielen Ländern zur Gründung von Organisationen von Menschen mit Behinderungen beigetragen, und wir können diese lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen nutzen, um zusammen mit ihnen für sie einzutreten. In der humanitären Hilfe können wir die Vorteile einer internationalen Nichtregierungsorganisation und lokaler zivilgesellschaftlicher Organisationen kombinieren. Und so dafür sorgen, dass niemand zurückgelassen wird. Das ist ein starkes Element der Motivation für mich. Wir sollten niemanden zurücklassen.
Wie wird Ihre Arbeit unterstützt? Kann man explizit für die Nothilfearbeit der CBM spenden?
Absolut! Wann immer wir eine humanitäre Situation oder eine Naturkatastrophe ansprechen, geben wir Pressemitteilungen heraus und wenden uns auch über unsere Website und die sozialen Medien an die breite Öffentlichkeit. Außerdem besteht immer die Möglichkeit, eine Spende für die Gesamtaktivitäten der humanitären Hilfe zu leisten. Zudem nutzen wir unser Unterstützer-Netzwerk durch unsere kompetenten Mitarbeiter in der Fundraising-Abteilung sowie in den Abteilungen der institutionellen Geber, um auch hier Mittel zu mobilisieren. Die CBM ist außerdem Mitglied im "Bündnis Entwicklung hilft", einem Spendenbündnis in Deutschland. Wenn wir eine Krise haben, die in den deutschen Medien sehr präsent ist, erhalten wir auch hieraus finanzielle Unterstützung. Das war zum Beispiel im Fall der Ukraine so, wo wir beschlossen haben, uns zu engagieren, weil die CBM die einzige Organisation im Bündnis ist, die sich auf inklusive humanitäre Hilfe fokussiert. Zurzeit verteilen wir z.B. in der Ukraine vor allem Hilfsmittel wie Rollstühle und Krücken sowie Hörgeräte und Brillen an Menschen, die diese auf der Flucht verloren haben. Wie in vielen Ländern Osteuropas werden Menschen mit Behinderungen, insbesondere mit geistigen Beeinträchtigungen, oft in Heimen untergebracht, und natürlich mussten auch sie wegen der russischen Invasion fliehen. Daher bieten wir auch Bargeldunterstützung für Menschen und vor allem für Familien, die sich jetzt um ihre Verwandten, Kinder, Eltern oder Geschwister mit Behinderungen kümmern. Dank der zahlreichen Spenden ist hier Hilfe möglich.
Gehen Sie auf alle Herausforderungen ein oder gibt es Kriterien, die dem Mandat der CBM entsprechen?
Der Auftrag der CBM besteht darin, sich um Menschen mit Behinderungen zu kümmern, wo immer wir die Möglichkeit haben. Das ist also auch das erste Kriterium für die Intervention. Alle Menschen, die sich in einer solchen Situation wieder stabilisieren, können sich dann in Zukunft auch selbst einbringen, um bessere Voraussetzungen für inklusive Entwicklungszusammenarbeit zu schaffen. Wir gehen normalerweise nicht in Regionen, in denen wir nicht schon präsent sind. Aber wir würden alle möglichen Optionen nutzen, um den Bedürfnissen der Menschen in humanitären Situationen überall auf der Welt gerecht zu werden. Im Nahen Osten z.B., haben wir sofort auf die Explosion im Hafen von Beirut im August 2021 reagiert und uns um die Bedürfnisse der Menschen gekümmert, die Verletzungen erlitten haben und körperliche Rehabilitation benötigten. Das war ein sehr medienwirksames Ereignis, eine regelrechte Industriekatastrophe! Wir konnten dort eine Partnerschaft mit einem langjährigen CBM-Partner wiederbeleben, mit dem wir bis 2013, zusammengearbeitet hatten. Eine Arbeitsbeziehung, die seit vielen Jahren beendet war, nachdem sich die CBM aus dem Libanon zurückgezogen hatte. Mit diesem Partner haben wir nun ein neues Projekt ins Leben gerufen, das sich um die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen kümmert, die im Rahmen der Syrienkrise im Libanon Zuflucht gefunden haben.
Welche Begegnung mit einer Person oder mehreren Personen in der Region, in der Sie tätig sind, ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Das war bei einem Projekt in Niger, wo wir in einem Gebiet arbeiten, das von gewalttätigen Extremisten geprägt ist, und in dem es sozusagen keine „ordnenden Kräfte“ mehr gab. Wir konnten es dort einigen Dutzend Frauen ermöglichen, in medizinische Einrichtungen in der Hauptstadt Niamey zu gelangen, die etwa 150 Kilometer entfernt ist, und dort zum ersten Mal medizinische Hilfe zu erhalten. Sie litten unter Geburtsfisteln, ihre Verletzungen waren bis dato völlig unbehandelt geblieben, mit schwerwiegenden und belastendenden Folgeerkrankungen, die sie stark im Alltag einschränkten. Unser Eingreifen bewahrte die Frauen davor, weiter stigmatisiert oder von ihren Familien und ihrer Gemeinschaft verstoßen zu werden. Ich war sehr beeindruckt von dem großen Unterschied, den wir hier mit relativ wenig Aufwand bewirken konnten. Manchmal ist es nur die gezielte Aufmerksamkeit für spezifische Bedürfnisse, die den Unterschied für Einzelne und dann aber auch für die Gesellschaft als Ganzes ausmachen. Weil zum Beispiel ganze Familien, die mit der Pflege eines einzelnen Familienmitglieds gebunden waren, nun entlastet sind, weil die Person wieder für sich selbst sorgen kann.
Was werden die größten humanitären Herausforderungen der Zukunft sein?
Die Zahl der Menschen, die aufgrund der Folgen von Konflikten, des Klimawandels und der Verschlechterung ihrer natürlichen Lebensgrundlage durch Ressourcenmangel zwangsvertrieben werden, wird zunehmen. Die humanitäre Hilfe wird mit einer globalen Flüchtlings- und Migrationskrise konfrontiert sein, – ist es bereits! Es ist auch eine Tatsache, dass die Häufigkeit und Schwere von Naturphänomenen wie Dürren, Überschwemmungen, aber auch die Auswirkungen seismischer Ereignisse, Erdbeben, Vulkanausbrüche usw. zunehmen. Damit wird sich die Zahl der Menschen, die im Laufe ihres Lebens verletzt und beeinträchtigt werden, erhöhen, zum Beispiel durch Rückenmarksverletzungen. Mehr Menschen werden in die Kategorie der dauerhaften Behinderungen fallen und müssen behandelt werden. Die Zahl der Menschen, die inklusive Hilfe benötigen, wird also weltweit steigen. Was mich jedoch motiviert weiterzumachen, ist die Tatsache, dass wir, wenn wir auf diese besonderen Bedarfe eingehen, auch die Menschen in die Lage versetzen, für sich selbst zu sorgen, wertvoller Teil einer Gemeinschaft zu sein, ein erfülltes Leben zu führen und wiederum anderen zu helfen. Das ist dann für mich die vollendete humanitäre Hilfe.